Die corona-bedingte temporäre Mehrwertsteuer-Senkung für das zweite Halbjahr 2020 birgt zumindest in der Lebensmittel-Branche auch die Gefahr eines zunehmenden Preiskrieges, erklärt der Handelsexperte Prof. Dr. Stephan Rüschen von der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn gegenüber dem Handelsjournal. Außerdem biete sie vor allem Supermärkten und Discounter eine fast einzigartige Möglichkeit, sich zu profilieren.
Discounter Lidl gab zuerst bekannt, den Preisvorteil der Mehrwertsteuer-Senkung zur Ankurbelung der Wirtschaft direkt an den Kunden weiterzureichen, Mitbewerber werden folgen.
Dass jetzt vor allem Discounter im Zuge der Mehrwertsteuer-Senkung aggressiver auf den Preis schauen, hängt laut Rüschen auch damit zusammen, dass sie bisher nicht so von der Corona-Krise profitieren konnten wie die großen Supermarkt-Ketten. Diese hätten ihren Kunden dank eines umfangreichen Sortiments bessere Möglichkeiten geboten, alles auf einmal an einem Ort einzukaufen.
Laut einer GfK-Studie würden vor allem ältere Menschen zunehmend versuchen, »möglichst selten und in möglichst wenigen Geschäften einzukaufen, um unnötige Risiken zu vermeiden«. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass sich Kunden in der Corona-Zeit auch einmal etwas (kulinarisch) Gutes gönnen…
In Zahlen: die Umsätze von Lebensmittel-Ketten wie Edeka und Rewe hätten im April 2020 um 26 Prozent über dem vergleichbaren Vorjahres-Niveau gelegen. Bei Discountern wie Lidl und Aldi waren es hingegen »nur« 20 Prozent. Im Vormonat März hat es laut GfK nicht anders ausgesehen.
Mehr Kaufkitzler als tatsächlicher Preisvorteil
Ausgehend davon, dass die Mehrwertsteuer-Senkung direkt an Endverbraucher weitergegeben wird (und somit die VK-Preise gesenkt werden): Fakt ist, dass der Preisvorteil durch die Steuer-Senkung von 19 auf 16 bzw. 7 auf 5 Prozent nur minimal ist. Das ist auch der Grund, warum er in vielen Branchen nicht an den Kunden weitergereicht wird. Sowohl der Aufwand als auch die Kosten einer Umstellung (Preisschilder ändern, Kassensysteme aktualisieren, Buchhaltungs-Software anpassen etc.) sind einfach zu hoch.
Was wäre wenn…
Zudem geht der Steuerexperte des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Stefan Bach davon aus, dass zum Beispiel ein Single mit geringem Einkauf durch die Mehrwertsteuer-Senkung (soweit sie überall weitergegeben würde!) monatlich circa 26 Euro einsparen würde. Für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren und einem höheren Einkommen geht er von 116 Euro im Monat aus.
Profiteur Billigheimer
Lassen sich die oben genannten Ergebnisse der Lebensmittel- auch auf die Fahrrad-Branche übertragen? Davon ausgehend, dass Kunden (und nicht nur Ältere) in diesen Zeiten lieber ein Geschäft mit großem Angebot als »one stop shopping experience« aufsuchen, sollten es auch hier eher große Fahrrad-Fachmärkte und -Filialisten sein, die von der Wiedereröffnung des stationären Handels eher profitieren als zum Beispiel das kleine Einzelhands-Fachgeschäft.
Beispiel Decathlon
Der im Fahrradsektor bestens aufgestellte Sportfilialist Decathlon macht es vor: erst letztens gab die Deutschland-Zentrale bekannt, die von der Regierung beschlossene Mehrwertsteuer-Senkung direkt an ihre Kunden weiterzureichen. Somit werden die ohnehin schon knallhart kalkulierten Verkaufspreise des Riesen zumindest temporär noch billiger. Zur selben Zeit bleiben die Verkaufspreise des Fahrrad-Einzelhandels aufgrund des oben beschriebenen Mehraufwands mehrheitlich unverändert.
Fazit: selbst wenn der durch die Mehrwertsteuer-Senkung entfachte Preisvorteil geringer ist als erhofft, bietet er dem Kunden zumindest einen Kaufanreiz, der vor allem von den Großanbietern bestens beworben wird. Der dadurch ausgelöste Kaufeffekt wird aber wohl erst richtig im Dezember 2020 einsetzen, wenn sich die temporäre Steuersenkung ihrem Ende zuneigt. Ab Januar 2021 gelten nämlich wieder die »normalen« Mehrwertsteuer-Sätze von 19 bzw. 7 Prozent.
Text/Foto: Jo Beckendorff