RadMarkt-Geschenktipp zum nächstjährigen 200. Geburtstag des Fahrrads: Auch wenn bisher nicht persönlich als »Feierbiest» in Erscheinung getreten hat der französische Ethnologe und Anthropologe Marc Augé eines anspruchsvolle Hymne auf eben dieses Fortbewegungsmittel verfasst. Titel des frisch veröffentlichten Buches: »Lob des Fahrrads«.
Viel persönliche Wehmut klingt aus jenen Kapiteln, in denen der Autor die einstige Integration des Fahrrads in die französischen Alltags- und Arbeitswelt beschreibt. Nach dem zweiten Weltkrieg sorgte das Fahrrad für neue Freiheiten, die der legendäre Jacques Tati 1949 in seiner ersten selbst inszenierten Filmkomödie »Jour de fête« (Schützenfest) mit viel Witz am Beispiel eines radelnden Postboten beschreibt. Im selben Jahr gewann Fausto Coppi den Giro d’Italia und die Tour de France.
Heute seien diese legendären Rennen nicht mehr das was sie einmal waren, bedauert der radsport-begeisterte Augé: »Das Schauspiel, das sie bieten, erreicht nicht das Niveau des früheren Spektakels. Coppi vermochte auf zwei Alpenetappen eine Viertelstunde aufzuholen. Heute kann ein aus guten Fahrern bestehendes Team das ganze Rennen blockieren, jeden Ausreißversuch vereiteln und allen Flachlandetappen nahezu denselben Verlauf aufzwingen, der sich auf ein paar Ausreißversuche beschränkt, von denen einer vielleicht vorübergehend Erfolg hat, bevor das Hauptfeld die Ausreißer wieder einholt und ein Massensprint das Rennen beschließt, aus dem die schnellsten Sprinter als Sieger hervorgehen. Die Berge spielen in der Tour immer noch eine entscheidende Rolle, aber die Zeit der großen Einzelfahrer ist vorbei.«
Es sei aber nicht nur der Radsport, sondern auch die fortschreitende Verstädterung, die dem Mythus des Fahrrads ein Ende gesetzt hätte. Paradoxerweise ist es mit Blick in die Zukunft eben diese Urbanisierung, die dem Fahrrad zu einer frisch erblühten Renaissance verhilft – und die Marc Augé von einer hinreißenden Utopie träumen lässt, in der das Radeln die ganze Welt verbessern wird.
Nicht nur in Kopenhagen und Amsterdam – den Welthochburgen des Fahrrads – prägen Fahrräder wieder das Straßenbild. Fasziniert beobachtet der Autor die Auswirkungen dieser veritablen Fahrrad-Revolution in seiner Heimat Frankreich: »Wenn man den Einwohnern und Besuchern in Paris und Lyon kostenlos Fahrräder zur Verfügung stellt, zwingt man sie, einander zu sehen und zu begegnen, die Straßen in soziale Räume zu verwandeln, den städtischen Lebensraum neu zu gestalten und die Städte zu träumen«, schreibt Augé. 1968 sei lange vorbei: »Das Leben zu ändern, das bedeutet heute zuallererst, die Stadt zu verändern.«
Autoren-Fazit: »Es gibt viel zu tun, und nicht alles, was getan wird, ist gut. Aber dass eine Utopie ihren Ort gefunden hat, das ist schon etwas.«
Titel: Lob des Fahrrads (104 Seiten mit 12 Illustrationen)
Autor: Marc Augé (Zeichnungen: Philip Waechter)
Verlag: C.H. Beck, München 2016
VK-Preis: 14,95 Euro (E-Book: 9,99 Euro)
ISBN: 978 3 406 69028 0
Text: Jo Beckendorff