Inzwischen besucht fast die Hälfte aller deutschen Schülerinnen und Schüler den gymnasialen Schulzweig. Was nach Bildungsfortschritt klingt, stellt sich in der PISA-Studie anders dar und ist für das Handwerk zum Problem geworden: Der Nachwuchs bleibt nicht mehr nur wegen des demographischen Wandels aus, sondern immer häufiger auch aufgrund der mit diesem Abschluss verknüpften gesellschaftlichen Erwartungshaltung.
Mit Abi ins Handwerk – noch immer unüblich
„Warum geht man denn mit Abitur ins Handwerk und nicht studieren?“ – solche oder so ähnliche Fragen haben sich Anna, Bengt, Marcel, Jan, Anna, Florian und Michel schon anhören müssen. Auch wenn sie in ganz unterschiedlichen Berufen arbeiten, haben die sieben jungen Talente etwas gemeinsam: Sie alle haben sich entschieden, mit einem (Fach-) Abitur eine handwerkliche Ausbildung zu absolvieren und sind nun Teil der Kampagne „Ab(i) ins Handwerk“.
In kurzweiligen Hochformatvideos auf TikTok, Instagram und und anderen Kanälen zeigen sie ihren Arbeitsalltag und erklären authentisch, warum diese Karriereentscheidung für sie richtig war. Eines wird dabei schnell deutlich: Für die eigenen Interessen einzustehen und sich dabei auch gegen gesellschaftliche oder gar elterliche Vorurteile durchzusetzen, lohnt sich immer.
Schulabschluss schürt gesellschaftliche Erwartungshaltung
Für die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer von „Ab(i) ins Handwerk“ war die handwerkliche Ausbildung nicht der erste eingeschlagene Weg. Hinter den Kurzvideos steckt daher auch ein ernstes Thema: Kein anderer Schulabschluss ist so eng mit einer Erwartungshaltung verknüpft wie das Abitur. Sich trotz gymnasialer Schullaufbahn erstmal für eine Ausbildung und gegen ein Studium zu entscheiden, ist – vor allem wenn es um Handwerk geht – oft verpönt.
„Nur weil die Quote derjenigen steigt, die das Gymnasium besuchen, heißt das nicht, dass wir auch mehr junge Menschen haben, für die ein theorielastiges Studium das Richtige ist. Ich bin der festen Überzeugung, dass es eine Menge junger Menschen gibt, denen unsere praxisorientierte Arbeits- und Denkweise besser liegen würde“, erklärt der Oldenburger Kreishandwerksmeister Boris Jersch.
„Wir möchten niemanden bekehren, aber wenn wir es mit diesem Projekt schaffen, ein paar jungen Menschen zu ermutigen, ihre Interessen zu verfolgen und ihnen damit Umwege erspart bleiben, haben wir viel geschafft,“ erklärt er.
Handwerk muss sich anpassen statt Vorwürfe zu machen
Auch wenn der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in 2022/23 in Niedersachsen den gymnasialen Schulzweig besuchten, laut statistischem Bundesamt bei 43,6 Prozent lag, ist es zu einfach, Nachwuchssorgen im Handwerk allein darauf und auf den demographischen Wandel zu schieben.
„Darf das Handwerk jungen Menschen Vorwürfe machen, weil sie den bestmöglichen Schulabschluss erlangen wollen? Ich denke nicht. Viel eher sollten wir daran arbeiten, Handwerksberufe auch für diese Zielgruppe attraktiver zu machen und mit Kommunikation Barrieren abbauen. Genau dort setzt Ab(i) ins Handwerk an und weicht Denkmuster auf,“ erklärt Ricus Dirks, Mitarbeiter für Öffentlichkeitsarbeit und digitale Medien bei der Kreishandwerkerschaft und verantwortlich für die Umsetzung des Projekts.
Nicht Abschluss, sondern Motivation entscheidet
„Zu betonen ist, dass nach wie vor alle Schulabschlüsse willkommen sind. Wir können jeden gebrauchen, der großes Interesse und Motivation für handwerkliche Arbeit mitbringt,“ sagt Jersch. Die Karrieremöglichkeiten im Handwerk seien unabhängig vom Bildungsabschluss ausgezeichnet. Eine handwerkliche Ausbildung könne ein Sprungbrett in ganz verschiedene Richtungen sein. Viele Handwerksberufe sind durch die Digitalisierung und Energiewende außerdem sehr anspruchsvoll und komplex geworden. Die Elektro- und Kfz-Berufe oder der Anlagenmechaniker SHK sind dafür gängige Beispiele.
Nicht zu vernachlässigen: Handwerksberufe machen glücklich. Laut einer Umfrage der Versicherungsgesellschaft IKK classic aus 2022 sagten fast 80 Prozent aller deutschen Handwerkerinnen und Handwerker, dass Sie glücklich mit ihrem Beruf sind. Zum Vergleich: Auf die gesamte arbeitende Bevölkerung bezogen, teilten nur 55,3 Prozent diese Ansicht.
Zweite Staffel in Planung
Glaubwürdige Aussagen, echte Arbeiten und authentische Persönlichkeiten stehen im Fokus von Ab(i) ins Handwerk – genau das kommt auf Social Media gut an. „Gescriptete Drehtage und vorbereitete Interviews waren für mich nie eine Option“ erklärt Ricus Dirks, der das Projekt entwickelt und umgesetzt hat. „Ich habe allen in Frage kommenden Kandidatinnen und Kandidaten das Projekt erklärt und im Anschluss jeweils einen regulären Arbeitstag als Drehtag vereinbart. Alles, was in den Videos passiert und gesagt wird, ist authentisch – niemandem wurde etwas in den Mund gelegt.“
Das Konzept kommt an: Die Beiträge wurden inzwischen über 35.000 mal angeschaut. Eine zweite Staffel werde es sicherlich geben.
Die Filme sind in den Kanälen Instagram, Facebook, Tiktok und Youtube unter dem Stichwort Handwerk Oldenburg zu finden.