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Frankreich: Studie für Comeback seiner Fahrrad-Industrie?
82 Seiten: die Studie »Mission of the Economic Sector of the Bicycle«

Nicht nur der Fahrrad- und E-Bike-Boom hat schlafende Hunde geweckt, sondern auch die ausufernde Lieferproblematik, die mit der Nachfrage nicht mehr Schritt halten kann. Nun hat der französische Abgeordnete Guillaume Gouffier-Cha (Bild unten) im Auftrag von Premierminister Jean Castex eine Studie über den Ist-Zustand der heimischen Fahrradbranche vorgelegt, der unter anderem auch die bis in den 80er-Jahren florierende heimische Fahrradindustrie wiederbeleben soll. Demnach denkt auch Frankreich an ein Bike-Valley, wie es sie bereits in den EU-Ländern Belgien, Bulgarien, Polen, Portugal und Rumänien mehr oder weniger gibt, laut nach.

Wie viele andere europäische Fahrradindustrien auch spielt die französische Fahrradindustrie seit der Produktionsverlagerung in asiatische Niedriglohn-Länder in den 1990er-Jahren nur noch eine untergeordnete Rolle. Nun scheint die französische Regierung eine Trendwende herbeiführen zu wollen. Um die E-Bike- und Fahrradindustrie wieder auf die Landkarte zu bringen, hat sie eine Reihe von Initiativen ins Leben gerufen.
Produktionsverlagerungs-Anreize für Asiens Teile-Hersteller
Laut einer Meldung im aktuellen Newsletter des Europäischen Fahrradindustrie-Verbandes EBMA sondiert Paris bereits das Interesse von Komponenten- und Fahrradherstellern in Taiwan und anderen asiatischen Ländern. Diese will man dazu bewegen, einen Teil ihrer Produktion nach Frankreich zu verlagern.
Welche Anreize dabei ins Spiel gebracht werden? Laut Gouffier-Cha müssten Maßnahmen zur Umsetzung einer nationalen Strategie entwickelt werden. Er schlägt die Schaffung von regionalen Industriezentren sowie von Gründerzentren für Fahrrad- und Produktinnovationen vor. Zudem könnte auch eine Fahrradmission innerhalb des Industrieministeriums eingerichtet werden.
Die Investmentbank Banque Publique d’Investissement (Bpifrance) soll potenziellen ausländischen Investoren den Kontakt zu den französischen Behörden erleichtern und die Unterstützung für Entwicklungsprojekte verbessern. Nicht umsonst ist Bpifrance eine französische Regierungseinrichtung, die Unternehmern zum Erfolg verhelfen sowie große Unternehmen, die als wichtig für die Interessen Frankreichs gelten, begleiten und Innovationen fördern soll.
»Die französische Fahrradindustrie hat in den vergangenen Jahrzehnten einen schweren Schlag erlitten«, heißt es in besagter Studie, »in den 1980er-Jahren war unser Land einer der Weltmarktführer in diesem Sektor. In nur wenigen Jahren ist diese Industrie fast verschwunden, was zu einer fast vollständigen Abhängigkeit von asiatischen Ländern bei der Lieferung von Fahrrädern, Zubehör und Komponenten geführt hat.«
Die vorliegende 82-seitige Studie (englischer Titel: »Mission of the Economic Sector of the Bicycle«) geht nicht nur auf die Reindustrialisierung des Fahrradsektors ein, sondern unterstreicht auch die Bedeutung der Förderung der Fahrradnutzung und der Entwicklung einer fahrradspezifischen Infrastruktur.
Fahrrad- und E-Bike-Handelsdefizit
Der Studie zufolge leidet die französische Fahrradbranche unter einem erheblichen Handelsdefizit. Dieses wird für das Jahr 2019 auf 241 Millionen Euro und für 2020 auf 264 Millionen Euro geschätzt. Der Marktanteil der nationalen Fahrrad- und E-Bike-Produktion am Gesamtmarkt-Volumen 2020 (= 2,685 Millionen Einheiten) soll gerade einmal bei 25,7 Prozent. Das entspräche einer Menge von 690.000 Einheiten. Unter Einbeziehung der französischen Fahrrad- und E-Bike-Exporte kommt man gerade noch auf 720.000 Einheiten.
In den heimischen Produktionsbetrieben sind derzeit in etwa 2.500 Personen beschäftigt. Dazu gesellen sich weitere 1.500 Dienstleistungs-Jobs. Nicht in diesen Zahlen enthalten: die Arbeitsplätze im (Fahrrad-)Einzelhandel.
Landsmann Decathlon größter EU-Fahrrad-Händler und -Hersteller
Die wichtigsten Hersteller in Frankreich sind Manufacture Française du Cycle (MFC), Cycleurope, Arcade Cycles und Décathlon. O-Ton aus der Studie: »Im Zusammenhang mit dieser Studie ist es wichtig zu erwähnen, dass Frankreich die Basis und der Heimatmarkt für Europas größten Fahrradhändler Decathlon ist.« Der Sportriese ist allerdings nicht nur Händler, sondern auch Hersteller. Der produziert auch, aber nicht nur in Frankreich (setzt allerdings auf für ihn arbeitende Produktionsstätten innerhalb der EU, z.B: in Polen, Portugal und Rumänien). Somit soll er anderen Branchenkennern zufolge auch Europas größter Fahrrad-(Mengen-)Hersteller sein.
Was tun?
Unter den zahlreichen Wiederbelebungs-Maßnahmen spricht Gouffier-Cha unter anderen über den Beitrag des französischen Fahrradsektors bei der Strukturierung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der Branche. Außerdem schlägt er die Schaffung von regionalen Industriezentren sowie von Gründerzentren für Fahrrad- und Produktinnovationen vor.
»Wir müssen auch die Entwicklung und die Modernisierung unserer nationalen Produktionsanlagen unterstützen und die Beschäftigung in der Industrie fördern. Diese Ziele sind spezifisch für die Reindustrialisierung unseres Landes. Wir brauchen hochmoderne Fabriken, die mit den modernsten Werkzeugen und Produktionsrobotern ausgestattet sind«, erklärte Guillaume Gouffier-Cha.
Letztendlich schlägt der französische Abgeordnete auch die Einführung eines verringerten Mehrwertsteuer-Satzes in Höhe von 5,5 Prozent für alle Fahrräder mit einer hohen Fertigungs- und lokalen Integrationsrate (über 80 Prozent) sowie einem hohen Reparaturfähigkeits-Index vor. All diese Vorschläge können laut Gouffier-Cha die Zahl der Arbeitsplätze bis 2030 auf 20.000 und bis 2050 sogar auf 45.000 erhöhen.
Was den verringerten Mehrwertsteuer-Satz betrifft, hatte die EU-Kommission bereits Ende letzten Jahres beschlossen, eine diesbezügliche Reform einzuleiten. Sie soll den jeweiligen Landesregierungen erlauben, die Mehrwertsteuer-Regeln Richtung ermäßigter Steuersatz ins Spiel zu bringen.
Die komplette Studie »Mission of the Economic Sector of the Bicycle«) kann als pdf unter diesem Link heruntergeladen werden.

Text: Jo Beckendorff/franz. Transportministerium/EBMA, Fotos: französisches Transportministerium

 

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